In 08/15 Beziehungsratgebern steht häufig sowas wie „Kommunikation ist das A und O“. Oder: „Kommunikation ist alles in Beziehungen“. Ich verrate dir heute etwas: das stimmt gar nicht! Zumindest nicht mit diesem absolutistischen Wahrheitsanspruch. Es ist unglaublich wichtig in Beziehungen jeder Art, sich mitzuteilen und das auf eine Art und Weise zu tun, die klar und nachvollziehbar ist, aber auch emphatisch und eine Offenheit für andere Perspektiven gewährleistet. Aber, jetzt kommt das große ABER, ich bin selbst fast vom Stuhl gefallen, als ich die wirklich sehr erhellenden Passagen dazu in einem Buch vom renommierten Paar- und Sexualtherapeuten David Schnarch gelesen habe.
In „Die Psychologie sexueller Leidenschaft“ beschreibt er, dass viele Paare, die über Kommunikationsprobleme klagen, eigentlich kein Problem damit haben, dass sie sich nichts mitteilen, sondern dass sie vielmehr gar nicht mehr aufhören miteinander zu kommunizieren und so in ein Interaktionsmuster geraten, das das wahre Problem ausmacht. Der manchmal jahrelange Versuch, Botschaften auszutauschen, die das Gegenüber bitte endlich annehmen soll, ist zermürbend und führt nicht selten in die Trennung oder Scheidung. Mist! Wie geht es also besser? Soll ich etwa aufhören mit meinem Partner oder meiner Partnerin zu reden?? Ich will aber meinen Willen bekommen und ich will aber Recht behalten! Was bildet sich diese Autorin bloß … !!!
Ok, Moment. Denn jetzt kommt’s: Kommunikation liefert leider keine Garantie dafür, dass Zufriedenheit und Intimität in einer Beziehung vorherrscht – wenn dem Gegenüber deine Botschaft nicht schmeckt. Wenn er oder sie sie einfach nicht hören und wirklich nicht annehmen will. „Wenn die Kommunikation gut funktioniert, heißt das nicht unbedingt, dass Ihr Partner Sie so sieht, wie Sie gerne gesehen werden möchten“, schreibt Dr. Sexualtherapeut Schnarch. „Die Kommunikation klappt nicht“, lässt sich ihm zufolge meistens damit übersetzen: „Ich weigere mich, diese Botschaft zu akzeptieren – schick mir eine andere! Wie kannst du es wagen, mich (oder diesen bestimmten Sachverhalt) so zu sehen!“.
Viele Ratgeber bieten an dieser Stelle tolle Tipps wie „Ich-Botschaften“ verwenden, gewaltfrei formulieren, sich gegenseitig zu bestätigen und im Wechsel etwas über sich preisgeben. Diese Tipps sind auch alle richtig und gut und bitte wende sie weiterhin an.
Aber noch ein Aber: sie alleine helfen nicht, wenn man nun einmal eine klare Differenz hat. Wer trotz unterschiedlicher Ansichten in einer Beziehung die Intimität und Nähe zueinander nicht verlieren will, für den hat David Schnach folgenden Hinweis: wahre Intimität entsteht erst durch „Konflikt, Selbst-Bestätigung und einseitige Preisgabe“. Worauf er hinaus will: wenn du immerzu darauf wartest oder einforderst, dass dein Gegenüber im besten Fall immer zur selben Zeit das gleiche möchte wie du – sei es körperliche Nähe, die Umsetzung anderer Wünsche oder einfach nur verbale Bestätigung – entsteht ein Push- und Pull-Teufelskreis.
Die Bedeutung von Kommunikation in Beziehungen ist natürlich weiterhin hoch. Doch sei dir gesagt: „solange die Partner von wechselseitiger Bestätigung abhängig sind, kontrolliert immer die Person, die das geringere Bedürfnis nach Intimität hat, den Grad an Intimität in der Beziehung.“
Daher: deinem Gegenüber zu kommunizieren, was du willst, ist absolut wichtig. Niemand kann dir deine Wünsche von den Augen ablesen. Und für eine gute Balance in der Beziehung ist es genauso von großer Bedeutung, sich nicht in einer Erwartungshaltung zu verlieren, sondern bei sich zu sein. Versetze dich selbst in die Lage selbstständig mit den eigenen Wünschen und deinen Emotionen umzugehen und diese zu regulieren. Den Partner oder die Partnerin mit Forderungen oder Vorwürfen zu überschütten, hilft weder dir noch deinem Gegenüber.
Schnarch vertritt die Ansicht, dass viele Paare Probleme in ihrer Beziehung haben, weil sie zu stark auf Kommunikation und Verständigung setzen, anstatt auf die Entwicklung von Selbstständigkeit, Selbstregulation und Selbstentfaltung zu achten. Er argumentiert, dass wahre Intimität erst entsteht, wenn beide Partner starke und eigenständige Individuen sind, die in der Lage sind, sich in der Nähe des anderen zu öffnen, ohne ihre eigene Identität zu opfern. Kommunikation kann ein wichtiger Bestandteil dieser Intimität sein, aber sie allein reicht nicht aus, um eine tiefe und gesunde Verbindung herzustellen.
Soll das etwas heißen, dass ich alles widerspruchsfrei akzeptieren soll?? Nein, natürlich nicht. Und es heißt auch nicht, dass du den Konflikten aus dem Weg gehen solltest. Es ist vielmehr eine innere Haltung, die eine Art von Kommunikation ermöglicht, die ohne Druck oder Zwang auskommt. Möchte dein Gegenüber zum Beispiel einfach nicht reden und du versucht es ihm oder ihr dennoch aufzuzwingen, wird sich die Person in die Enge getrieben fühlen und gar nichts mehr sagen. Im Gegenteil, vermutlich wird sich die Person mit Händen und Füßen dagegen wehren, jemals wieder etwas sagen zu müssen, flüchten oder lautstark versuchen, der Situation zu entkommen.
Kommunikation allein kann Konflikte nicht immer lösen, wenn sie nicht von einer inneren Haltung der Selbstständigkeit und Selbstregulation begleitet wird.
Akzeptierst du, dass du in diesem Moment nicht bekommst was du willst, weil du die innere Haltung eingenommen hast, dass du und deine Identität auch gar nicht darauf angewiesen seid, dieses Gespräch zu führen, die Bestätigung von außen zu bekommen, dann wird es leichter für dich und auch für das Gegenüber einen anderen Moment zu finden, an dem es eher möglich ist sich auszutauschen. Und zu guter Letzt ist deine offene Haltung auch ein guter Gradmesser dafür, wie viel Interesse dein Partner oder deine Partnerin insgesamt an der Beziehung mit dir hat. Wer gar nicht reagiert, auch nach etwas Bedenkzeit, will vielleicht auch weiterhin wirklich nicht und dann muss diese Person auch nicht mehr überredet werden.